Herbst-im-Ahorntal

Rede zum Volkstrauertag

Rede des Ersten Bürger­meis­ters Florian Questel zum Volks­trau­ertag 2021:

Das Ende des Zweiten Welt­kriegs ist 76 Jahre her. Für uns Heutige hat der Krieg einen festen Rahmen aus Jahres­zahlen, er dauerte von 1939 bis 1945. Aus dem Rück­blick ergibt das die beru­hi­gende Gewiss­heit: Zwischen diesen beiden Daten, in diesem zeit­his­to­ri­schen Kasten steckt der Krieg. Danach kam der Frieden, in dem wir, zumal in den west­li­chen Demo­kra­tien, relativ gut leben.

Doch damals, im Inneren des Kastens, kannte niemand dessen Dimen­sion. Er war eine Black Box, eine schwarze Kiste. Der Welt­krieg tobte global, sein letzter Tag lag im Irgend­wann einer verhüllten Zukunft.
Hundert­tau­sende Emigranten, Verfolgte und Inhaf­tierte speku­lierten: Geht es noch ein Jahr? Oder viel länger? Viel­leicht ist es im Winter vorbei? Millionen Menschen in der gesamten zivi­li­sierten Welt hofften auf ein Kriegs­ende. Die Erlö­sung kam, und wer damals jung war, hat sie miter­lebt. An einem Wald­rand bei Fürth, daran erin­nerte sich meine Groß­mutter gut, pflückte sie im Früh­sommer 1945 Blumen, ganz ohne die übliche Angst vor Tief­flie­gern, die jeder­zeit auftau­chen und feuern konnten. Beim Blick in den blauen Himmel war der Zehn­jäh­rigen urplötz­lich klar: Ja, der Krieg ist vorbei! Mit einem Strauß Marge­riten und Schlüs­sel­blumen kam sie nach­hause, und bis zu ihrem Tode erin­nerten Wiesen­blumen sie an jeden Mai, an den Augen­blick, der ihr vorkam wie das Aufwa­chen aus einem Alptraum. Jahre­lang hatten Alarm­si­renen und Luft­schutz­keller, Panik und Todes­ängste zu ihrem Alltag gehört. Sie selbst musste damals, auch als Kind die Such­schein­werfer in Fürth bedienen um nachts die Bomber zu orten. Ein lebens­ge­fähr­li­cher und zugleich anstren­gender Job für ein kleines Mädchen. Sie erzählte mir, wie sie weinend am Fenster stand und die Nürn­berger Burg in Flammen sah. Das war jetzt vorüber.

Doch um die Blumen­wiese herum lag ganz Deutsch­land, ganz Europa in Trümmern.
Alli­ierte Soldaten bargen jüdi­sche Über­le­bende aus den Lagern. Millionen deut­scher Fami­lien wussten nicht, ob ihre Väter, Söhne und Brüder zurück­kehren würden, Bret­ter­zäune hingen voll mit Such­mel­dungen des Roten Kreuzes. In den Straßen sah man Kriegs­ver­sehrte und Flücht­linge. Kinder hatten Unter­richt in Behelfs­ba­ra­cken. Aber die Bomber dröhnten nicht mehr durch die Nacht und in Europa endete die Menschen­jagd der Natio­nal­so­zia­listen, endete ihre gezielte Sabo­tage jegli­cher Menschlichkeit.

„Kriegs­ende“ ist ein tröst­li­ches Wort. Der Krieg ist also an sein Ende gekommen, fast als sei er eine Art Jahres­zeit gewesen. Wie ein Natur­er­eignis beschreibt unsere Sprache ja auch seinen Anfang: „Der Krieg bricht aus“ heißt es. So verkleidet Sprache, was alle besser wissen: Kein Krieg bricht aus wie ein Vulkan oder ein Fieber. Menschen hatten den Krieg zu verant­worten und die Kapi­tu­la­tion des „Dritten Reichs“ war Voraus­set­zung für den Aufbruch in eine Neuord­nung unter dem Leit­sternen Demo­kratie und Menschenrecht.

Mit der soge­nannten „Stunde Null“ begann das Fort­räumen des Schutts. Städte erstanden auf, während alli­ierte Finanz­hilfe im Aufbau­eifer die Bundes­re­pu­blik aus den Ruinen­fel­dern ins Wirt­schafts­wunder bugsierten. Der Kasten, in dem der Krieg gesteckt hatte, bekam im Mai 1945 seinen Datums­de­ckel und viele Deut­sche hätten den Kasten gern zuge­na­gelt, um den mora­li­schen Bank­rott der Gesell­schaft darin zu begraben, so wie man die Toten begraben hatte.

Aber authen­ti­scher Frieden verlangt nach Wahr­heit, denn mensch­liche Seelen kennen keine Stunde Null. Nein: Die Seele muss ihr Handeln und Erleben erkennen und verar­beiten. Deshalb wurde der Deckel des Kastens nicht zuge­schlagen, sondern ange­hoben. Und je mehr Licht in den Kasten fiel, desto größeres Grauen kam zum Vorschein, zunächst mit den Nürn­berger Prozessen. Der Zivi­li­sa­ti­ons­bruch des Holo­caust hatte die Gattung verraten; er hatte Gott denun­ziert, klagten andere, wieder andere verloren ihren Glauben. „Gott war immer da“, sagte der Londoner Rabbiner Lionel Blue einmal über Ausch­witz: „Aber die Menschen waren nicht da.“
Das heißt: Die Täter hatten ihre Mensch­lich­keit verloren.

Der Weg zum Abschied war weit. Erschüt­te­rung durch Schuld und Trau­mata lässt sich nicht fort­schaffen wie Trümmer aus Stein. Die Psyche braucht Zeit, sich ihren Weg durch Wider­stände zu bahnen und in den meisten deut­schen Fami­lien herrschten Scham, Angst und Verdrän­gung. Nach und nach erfuhren Kinder und Jugend­liche, oft nur durch aufge­schnappte Worte, was Erwach­sene ange­richtet hatten. Sogar die Eltern, denen man vertraute.

Wo sollte die Jugend Vorbilder finden, wie sie drin­gend gebraucht wurden?
Die Älteren zu konfron­tieren, blieb lange ein Tabu. „Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zuge­lassen?“ Zu solchen Fragen besaß erst die nächste Nach­kriegs­ge­nera­tion den Mut, die der Rebellen in den 1960er Jahren. Sie skan­dierten das laute Echo auf die bald nach 1945 entstan­dene Devise: „Nie wieder Krieg!“ Inzwi­schen sind, vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, einge­grenzter Kriege auf den furcht­baren Zweiten Welt­krieg gefolgt, in Korea, Alge­rien, Vietnam und Kambo­dscha, in Jugo­sla­wien – und heute in Syrien, in der Ukraine, in Libyen, in Afghanistan.

„Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zuge­lassen?“ So werden Leute, die heute Kinder sind, später einmal mit Recht fragen. Die Zuschauer, wie die Schul­digen werden dann wieder versu­chen zu verdrängen, zu baga­tel­li­sieren, zu vertu­schen… den Kasten zuzunageln.
Doch die Welt­ge­mein­schaft lernt und es wird wahr­schein­lich mehr und schneller Antworten geben als zuvor in der Geschichte. Das Inter­na­tio­nale Straf­recht hat seit den Nürn­berger Prozessen enorme Fort­schritte gemacht. Allem Popu­lismus zum Trotz exis­tieren mehr Demo­kra­tien als je zuvor und auf die Charta der Menschen­rechte der Vereinten Nationen berufen sich Milli­arden Menschen, wenn­gleich die Charta, gemessen an der Geschichte der Gattung, noch unglaub­lich jung ist. Gewis­ser­maßen gerade einmal in der Kinderkrippe.

Die Mensch­heit kann sich selbst der ärgste Feind sein, wie in der von Deutsch­land initi­ierten Barbarei zwischen 1933 und 1945. Die Mensch­heit kann aber auch zur Freund­schaft mit sich selber finden, sich mit sich selber anfreunden. Viel­leicht gibt auch und gerade die Corona-Pandemie uns dazu jetzt eine Riesen­chance. Wenn­gleich auch hier mit Sorge eine zuneh­mende und gefähr­liche Spal­tung der Gesell­schaft zu beob­achten ist. Halten wir zusammen und setzen alles daran, dass Mensch­lich­keit und Nächs­ten­liebe die Werte sind und bleiben, die unser Land und die Welt künftig prägen.